Ulla aus Karl-Marx-Stadt

„Du hast einen Ausreiseantrag gestellt. Warum?“

In der DDR war es üblich, die Menschen zu fragen, warum sie gehen wollen. In erster Linie wollten die Beamten erfahren, ob der Antragsteller den festen Willen hat oder nur einer Laune nachgibt. Die entsprechende Prüfung wurde nicht mit einem Gespräch, sondern mit vielen durchgeführt. Gleichzeitig versuchten die Beamten, den Willigen von der Ausreise abzuhalten. Die Argumente waren durchaus überzeugend und nicht erlogen. Außerdem wollten die Beamten gerne erfahren, wer oder was die Willigen zu dem Entschluss brachte. Bei Ulla stand das relativ fest. Sie wollte einen Italiener heiraten. Fertig. Das muss reichen. Die Beamten fangen also an zu prüfen, wer denn der zukünftige Ehepartner ist. Nicht wegen seiner Gesinnung. Im Vordergrund stand der Wunsch, zu erfahren, ob es dem Auswanderer zukünftig gut geht. Bei sehr vielen Menschen stellte sich heraus, sie wollen zurück.

In dem Fall, geht es dann eben auch um die innere Sicherheit. Die Nachbarschaft der DDR bestand keinesfalls aus Freunden. Im Gegenteil.

Ulla bestand jedoch auf die Erfüllung ihres Wunsches. Ab in den Westen.

Natürlich findet das behördliche Anliegen der Regierung der DDR in den provinziellen Vertretern den Vollstrecker. Einer ist etwas ehrgeiziger. Ein anderer eher locker und etwas nachlässiger. Je nach Charakter und Gesinnung. Widersprüche werden sichtbar. Vielleicht hilft etwas Westgeld? Das Problem ist eigentlich nicht die Zahlung. Das Problem ist die Wirkung. Wo erziele ich die größte Wirkung?

Nun gibt es in einer Volksherrschaft viele, die über die Ausreise zu entscheiden haben. Alle fordern die entsprechende Begründung. Für den Willigen scheint das ein Spießrutenlauf zu sein. Für die Entscheidungsträger ist es einer.

Ulla wurmt das gewaltig. Demokratie ist ein fürchterliches Konstrukt. Zu viele Andere, entscheiden, was der Einzelne einer Gesellschaft tun kann und was nicht.

In Vorbereitung auf den Westalltag, lassen die DDR – Behörden jetzt den Antragsteller die Wege zurück legen, die ihn im Westen so und so erwarten. In allen Bereichen. Auch für Arbeit. Ulla kann sich das schwer vorstellen und empfindet das als Schikane. Einem Westbürger kommt das bei sich zu Hause ganz normal vor. Obwohl er darüber schimpft.

Die Einzigen Bürger der DDR, welche in etwa vergleichbare Behördengänge zurück legen wie Westbürger, sind Selbstständige. Selbst die, würden Westbeamte und die Gänge zu ihnen, als Schikane bezeichnen. In der DDR lief das bedeutend gemütlicher. Dort konnten sich Selbstständige auf das konzentrieren, was ihre Selbstständigkeit auszeichnet. Unternehmertum. Etwas unternehmen. Lücken füllen. Zum Wohl der Gesellschaft. Für die eigene Anerkennung. Und das sogar gefördert.

Ulla ist zwar unternehmungslustig, aber keinesfalls ein Unternehmer. In Einem sind aber Beide gleich. In der Risikobereitschaft. Ein Unternehmer bringt ein neues Produkt für seine Gesellschaft mit einem Risiko. Wird es gebraucht und angenommen? Oft fehlen dafür die gesetzlichen Vorgaben. Streit ist vorprogrammiert. In allen Gesellschaften.

Ulla versteht das nicht. Sie möchte nur zu ihrem Geliebten.

Die DDR – Behörden möchten sie nicht unter einer Brücke sehen. Sie möchten wissen, wo Ulla ihr neues Zuhause und ihr soziales Auskommen findet. Was ist daran verwerflich? Für einen Verliebten zählen andere Maße. Liebe macht blind. Und sehr oft, taub.

Komisch, dass ausgerechnet der Zustand gewinnt. Ein menschlicher Zustand.

Mit der vorsätzlichen Verzögerung samt gesetzlichen Fristen, vollstrecken die DDR – Behörden jetzt ihre versteckte Prüfung.

„Der Lucca oder die Ulla können uns viel erzählen. Wir prüfen jetzt die Ernsthaftigkeit ihrer Entscheidung. Im Westen sind die für sich selbst verantwortlich. Bei uns tun wir das teilweise. Für sie. Gratis. Das ist unsere Pflicht hier“, ist deren Antwort. Generell schätzen sie jeden Ausreisewilligen mit diesem Willen als euphorisch ein. Zu Recht. Sie sind dem Schutz der Arbeiter und Bauern verpflichtet. Das ist ihr Gesetz, an da sie sich halten. Durch Spione und Genossen, sind sie sehr wohl im Bilde, wie es im Westen zugeht. Und damit warnen sie den Ausreisewilligen. Der wiederum ist gehindert, zu sehen, was hinter deren Propaganda steckt. Einmal Drüben, werden sie schnell von der Realität eingeholt. Und diese Mühlen, malen bedeutend langsamer als die eine Mühle der DDR. Dort steht in jedem Amt eine neue Mühle.

Lucca hat sich entschlossen. Er sucht für Ulla eine Wohnung. Ohne Wohnung, bekommt Ulla keine Einreise.

Zuerst muss sich Lucca scheiden lassen. Das braucht gewaltig Zeit. Ulla kann das nicht verstehen. In der DDR ging das mit einem Amtsbesuch zu regeln. Ein Gericht wurde nur für die finanziellen Streitigkeiten bemüht. Auch nach der Scheidungsprozedur. Und wenn sich Beide nicht einigen konnten, hat das Gericht das Vermögen geteilt. Durch die Anzahl der Familienmitglieder dieses Haushaltes. Scheidung kann so einfach sein. Verzögerungen gibt es höchstens beim gemeinsamen Wohnraum. Der wurde eben durch die Parteien geteilt. Auch sehr einfach. Das Zimmer für dich und das Zimmer für dich. Fertig. Menschlich.

Ulla lernt sehr schnell. Sie ist bei Lucca, ihm ausgeliefert. Ohne ihn, ist sie illegal dort. Ulla hält es jetzt für müßig, über Freiheit zu sprechen. Die hat sie gerade verloren. Eigentlich wollte sie auch keine Freiheit. Die wollte sie zusammen mit Lucca teilen. Ob jetzt Lucca das Mittel zum Zweck ist oder Liebe, sei dahin gestellt. Wir wollen Ulla keine Hinterlistigkeit unterstellen. Die zahlreichen Gänge zu den verschiedenen Ämtern und Behörden, sind eher eine Bestrafung. Und das spürt Ulla sofort. Zum Glück gibt ihr Lucca den Halt, den sie benötigt.

Ulla lernt schnell. Sie kann bereits nach einem halben Jahr, perfekt Italienisch. Das verhilft ihr zu einem Posten als Sekretärin. Vor allem beim Übersetzen der Geschäftspost. Im Grunde hat sie damit den zahlreichen Südtirolerinnen und Schweizerinnen den Arbeitsplatz genommen. Deren Neid, könnte auch in Hass ausufern. Tatsächlich ist es so. Das Büroklima ist recht bissig. Ich möchte jetzt nicht dämlich sagen. Es gibt tatsächlich auch ein paar männliche Sekretäre in ihrem Büro. Sehr wenige. Dafür aber recht kluge. Auch schöne. Sehr schöne. Die wären vielleicht für das Vergnügen zuständig. Für die Seele ist Lucca reserviert. In der Beziehung, ist Keiner besser. Das hat Ulla getestet. Das Testumfeld ist natürlich nicht vergleichbar mit dem privaten Umfeld. Das private Umfeld bietet ihr Sicherheit und Wärme. Ein Wechsel käme nie in Frage. Dafür kennt sie die neue, vorher unbekannte Mentalität zu genau. In Lucca sieht sie Verantwortung und Liebe.

Einen Unterschied zu Karl – Marx – Stadt spürt Ulla sofort. Der geregelte Arbeitstag ist Geschichte. Sie muss zwar nur knapp neun Stunden arbeiten. Aber im Verkehr der Stadt, verliert sie pro Weg zwei Stunden. Unbezahlt. Die kommen dazu.

Sie entdeckt die Liebe zum Land. Trotz der vielen Vorteile, die sie in der Stadt geboten bekommt. Scheinbare Vorteile. Konsum. In der Stadt lernt sie, zu widerstehen. Ihre Grenzen sind sehr schnell gezogen. Ihre Freiheit erleidet schwere Verluste. Überall ist ein Eintrittsgeld fällig. Die scheinbaren Inseln der Gemütlichkeit und Entspannung, sind Treffpunkte krimineller Gangs. Nichts mit Freiheit.



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